Vokalmusik im 17. Jahrhundert

Vokalmusik im 17. Jahrhundert
Vokalmusik im 17. Jahrhundert
 
Wie stark im 17. und auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Vokalmusik im Vordergrund stand, belegen nicht nur die zahlreichen Drucke, sondern vor allem auch die unzähligen Handschriften, mit deren Anzahl die Überlieferung von Instrumentalmusik nicht konkurrieren kann. Die Vokalmusik war eben am ehesten dazu geeignet, die menschlichen Leidenschaften (»affetti«), denen das besondere Interesse des Barocks galt, darzustellen. Da die prominenten Musiker in dieser Zeit entweder im Dienste der Kirchen oder der Höfe standen, ergab sich fast zwangsläufig diese Schwerpunktbildung. In den Kirchen wurden traditionell hauptsächlich Vokalkompositionen aufgeführt, für die in der Regel die Kapellmeister Sorge zu tragen hatten. Aber auch die rangniederen an den Kirchen angestellten Musiker versuchten, durch eigene Kompositionen ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dank entsprechender Widmungstexte konnten sie auf zusätzliche finanzielle Zuwendungen oder auf eine Beförderung innerhalb der in aller Regel strengen hierarchischen Ordnung hoffen.
 
An den Höfen diktierte der jeweilige Regent den musikalischen Geschmack. Um repräsentative Opernaufführungen am eigenen Hof zu ermöglichen, wurde selbst bei kleineren Höfen auf gute Sänger Wert gelegt; deren Gage übertraf die der Instrumentalisten um ein Vielfaches. Insbesondere die italienischen Kastraten wurden im 17. und 18. Jahrhundert von den Höfen ganz Europas umworben.
 
Im geistlichen Bereich entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts einige wenige neue Gattungen wie das Oratorium oder die erstmalig von Lodovico Viadana 1602 vorgelegten, der Monodie verpflichteten geistlichen Dialoge. Diese basierten im Wesentlichen auf Bibelerzählungen mit zumeist neu gedichtetem Text, der entweder historisch oder allegorisch gestaltet sein konnte. Sie hatten maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des um 1640 entstandenen Oratoriums. Für das Oratorium, als dessen Gattungsmerkmale die Verwendung poetischer geistlicher Texte mit dramatischer Anlage und aufgeteilten Rollen gelten, wirkte in Italien vor allem Giacomo Carissimi prägend. Durch seine zahlreichen Schüler gelangte die Gattung nach Frankreich (Marc-Antoine Charpentier) sowie nach Deutschland und Österreich (Johann Kaspar von Kerll, Christoph Bernhard, Johann Philipp Krieger). Während die geistlichen Dialoge in Italien und auch in Frankreich meist lateinische Texte hatten, zog man in Deutschland die Nationalsprache vor, wobei beispielsweise Heinrich Schütz — anders als seine italienischen Zeitgenossen — keine gereimten Dichtungen übernahm. Durch textliche Ausweitungen wurden bald die Grenzen zum Oratorium verwischt; das Oratorium jedoch war meist zweiteilig, um zwischen den Teilen die Ansprache des Priesters zu ermöglichen. Es unterschied sich von der Oper, mit der es von Anfang an in engem Austausch stand, vor allem durch die Verwendung eines Erzählers, zumeist »Testo« oder »Historicus« genannt. Neben seiner Hauptaufgabe, den Hörer durch die Handlung zu führen, musste er mitunter auch die Handlung kommentieren oder gar fiktive Bühnenbilder schildern wie in Alessandro Stradellas »Susanna«. Wichtige Zentren des Oratoriums in Italien waren Rom, Bologna und Modena.
 
Von einem deutschen Oratorium lässt sich erst seit dem Aufkommen des Passionsoratoriums zu Beginn des 18. Jahrhunderts sprechen, einer Untergattung, die im Unterschied zu der von Johann Sebastian Bach auf einen künstlerischen Höhepunkt geführten oratorischen Passion überwiegend außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens aufgeführt wurde. Ihrer hatten sich Händel, Telemann und Keiser angenommen. Im 17. Jahrhundert waren es in Deutschland die geistlichen Opern, die den gleichen Stellenwert einnahmen wie das Oratorium in Italien und Österreich.
 
Als weitere, eher dramatische Gattung entstand die Kirchenkantate. Der Begriff »Kantate« freilich ist problematisch, zum einen deswegen, weil er auch weltliche Kompositionen bezeichnet, zum anderen, weil selbst Johann Sebastian Bach seine Kirchenkompositionen nie — anders als heute üblich — als Kantate bezeichnet hat. Gleichwohl bietet sich kein anderer Begriff in ähnlicher Weise für diese Gattung an, die vorwiegend im protestantischen Deutschland gepflegt wurde und die mit den Werken Bachs unzweifelhaft einen qualitativen, mit denen Telemanns einen quantitativen Höhepunkt erreicht hat.
 
In Italien hießen die geistlichen, mit lateinischem Text versehenen Pendants zur stets italienisch textierten weltlichen Kantate Motetti oder auch Concerti. Weltliche Kantate und geistliche (Solo-)Motette werden geprägt durch den Wechsel von rezitativischen Teilen und Arien, wobei die Rezitative in der Kirche sanglicher ausfallen sollten als die in der Kammer. Wenngleich nicht grundsätzlich, so verlangte die Kirchenmusik doch auch stärker nach instrumentaler Ausschmückung. Um größere Kontrastwirkungen zu erzielen, wurde die Motette schon früh durch Instrumental-, Chor- und Ensemblesätze erweitert.
 
Neben der Solomotette verwendete man die chorische Motette im Gottesdienst. Sie gehörte zum Proprium missae, den textlich nicht festgelegten Gesängen der Messe, und konnte entweder als Introitus oder als Umrahmung der Predigt eingesetzt werden. Etwa ab 1580 wurde die Motette immer mehr zur Doppelchörigkeit ausgeweitet, was ab 1620 geradezu die Norm war. Zugleich bemühte man sich verstärkt — den allgemeinen Tendenzen folgend — die Textdarstellung durch Kontraste, Melismen und Sequenzen zu intensivieren. Die Neuerungen Giovanni Gabrielis konnten in Deutschland wegen der gemeinsamen liturgischen Sprache Latein problemlos übernommen werden.
 
Der konzertante Stil hielt nicht zuletzt durch die »Cento concerti ecclesiastici« Lodovico Viadanas Einzug in die Kirche. Die Verwendung von eigenständig geführten Instrumenten in den Messkompositionen (zuerst wohl bei einer Messe Ercole Portas aus dem Jahre 1620) ermöglichte auch bei dieser gewichtigen Gattung eine größere stilistische Vielfalt.
 
Gleichzeitig behaupteten sich aber auch Messen im Stile antico, die den alten vokalpolyphonen Kompositionsstil der Palestrina-Zeit weiterpflegten. Ähnlich hielt sich — insbesondere in Österreich — die Tradition der Vielchörigkeit, die bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Rom monumentale Werke hatte entstehen lassen.
 
Wie die geistliche, so bediente sich auch die weltliche Vokalmusik zahlreicher Gattungen, die bereits vor Beginn des 17. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Zwar änderte sich, insbesondere bei den mehrstimmigen Gattungen wie dem Madrigal oder der Villanella, die Textbehandlung nicht unwesentlich; als Gattungstyp aber wurden sie noch längere Zeit beibehalten, wobei allerdings das Madrigal zum konzertanten Madrigal umgeformt werden konnte. Als konzertante Ensemblemusik erfreuten sich — analog zu den »Kleinen geistlichen Konzerten« — Kammerduette und -terzette lange Zeit relativ großer Beliebtheit. So hat zum Beispiel Händel noch immerhin zwanzig Duette und zwei Terzette geschrieben. Weitere bedeutsame Komponisten dieser Gattung waren Giovanni Carlo Maria Clari, aus dessen Duetten und Terzetten wiederum Händel einiges entlehnt hat, und der vorwiegend in Deutschland wirkende Agostino Steffani.
 
Mit den Neuerungen der Monodisten entstanden aber auch neue Gattungen der weltlichen Vokalmusik. Bereits 1602 veröffentlichte Caccini in seinen »Nuove Musiche« zwei Beispiele für die strophische Monodie. Die Strophen dieser geringstimmigen weltlichen Vokalwerke konnten entweder durch klare Kadenzzäsuren oder durch ein für jede Strophe beibehaltenes Bassmodell gegliedert sein; so ließ sich die Vokalmelodie frei durchkomponieren, ohne dass der musikalische Zusammenhalt gefährdet wurde. Immer mehr setzte sich ab etwa 1630 hierfür der aus den Bassmodellen gewonnene Begriff »Aria« durch (zum Beispiel Aria di Ruggiero, Aria di Romanesca). Solche mehrstrophischen Gesangsstücke wurden zunächst auch als »Cantata« bezeichnet. Diese entwickelte sich jedoch bis 1650 aus der Strophen-Aria und dem monodischen, solistisch oder geringstimmig besetzten Generalbass-Madrigal zu einer eigenen Gattung. Die Textdichter schrieben hierfür — ähnlich wie in der Oper der Zeit — Texte mit wechselndem Versmaß, das zum Teil Rezitativen, zum Teil Arien zugeordnet werden konnte. Daraus resultiert der zunächst häufige Wechsel von Rezitativ und Arie, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu der Abfolge (Rezitativ) — Arie — Rezitativ — Arie schematisiert wurde. Der überwiegende Teil der quantitativ äußerst ergiebigen Kantatenproduktion war lediglich für Singstimme und Continuo geschrieben. So beschränken sich von den etwa 600 Kantaten Alessandro Scarlattis 508 auf diese Minimalbesetzung. Instrumentalbegleitete Kantaten fanden jedoch zu Beginn des 18. Jahrhunderts verstärkt Zuspruch, zumal wenn sie für feierliche Anlässe komponiert wurden, etwa als Gratulations- oder Huldigungskantaten. Nach 1750 geriet die Kantate mehr und mehr aus der Mode. Aber immerhin hatte diese ausgesprochen flexible kleine Gattung mit ihrer thematischen Eingrenzung auf Liebeslyrik und der gleichzeitig gegenüber der Oper artifizielleren Kompositionstechnik gut 100 Jahre lang den musikalischen Bedürfnissen beinahe aller Bildungsschichten entsprochen. Sie war die »barocke« Gattung schlechthin.
 
Dr. Reinmar Emans
 
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Vokalmusik — Vo|kal|mu|sik 〈[ vo ] f. 20; unz.; Mus.〉 Musik für Singstimme(n) mit od. ohne Instrumentalbegleitung; Ggs Instrumentalmusik * * * Vo|kal|mu|sik, die: von einer od. mehreren Singstimmen mit od. ohne Instrumentalbegleitung ausgeführte Musik. * * *… …   Universal-Lexikon

  • Vokalmusik — ist Musik, die mit der menschlichen Stimme ausgeführt wird, im Gegensatz zur Instrumentalmusik. Ihr liegen für gewöhnlich literarische Dichtungen zugrunde, die von einem Komponisten vertont wurden; von modernen Komponisten werden vereinzelt auch… …   Deutsch Wikipedia

  • Messe, Motette und Chanson im 15. und 16. Jahrhundert —   Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts entfaltete sich im Wesentlichen in den drei vokalen Gattungsbereichen Messe, Motette und weltliche Liedkunst sowie, zunehmend gegen Ende der Epoche, in einer Reihe instrumentaler Formen. Messe und Motette… …   Universal-Lexikon

  • Monodie: Antikes Vorbild und Sologesang im 16. Jahrhundert —   Im Zuge der von den Humanisten geforderten Rückbesinnung auf antike Vorbilder wurde am Ende des 16. Jahrhunderts der Begriff »Monodie« von der italienischen Musiktheorie aufgegriffen und für eine neue Musikanschauung nutzbar gemacht. Nach der… …   Universal-Lexikon

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

  • Vokalstimme — Als Vokalmusik bezeichnet man jegliche Musik, die mit der menschlichen Stimme ausgeführt wird, im Gegensatz zur reinen Instrumentalmusik. Ihr liegen für gewöhnlich literarische Dichtungen zugrunde, die von einem Komponisten vertont wurden; von… …   Deutsch Wikipedia

  • J. S. Bach — Johann Sebastian Bach im Jahre 1746, mit Rätselkanon. Ölgemälde von Elias Gottlob Haußmann …   Deutsch Wikipedia

  • JSB — Johann Sebastian Bach im Jahre 1746, mit Rätselkanon. Ölgemälde von Elias Gottlob Haußmann …   Deutsch Wikipedia

  • Johann Sebastian Bach — im Jahre 1746, mit Rätselkanon. Ölgemälde von Elias Gottlob Haußmann aus dem Jahre 1748[1] …   Deutsch Wikipedia

  • Altblockflöte — Blockflöte engl.: recorder, ital.: flauto dolce oder flauto diritto Klassifikation Aerophon Blasinstrument Verwandte Instrumente …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”